Reisebericht: Eine überraschende Begegnung ...
von: Fabian Wehner am: 05.09.2011
Bericht aus dem Ostpreußischen Sommer
Die Radreisen "Ostpreußisches Bilderbuch" sind Begegnungsreisen. Während neun Tagen begegnen wir nicht nur der alten ostpreußischen Dame Irena auf dem Grigoleitschen Bauernhof im Memelland, nicht nur der entwaffnend herzlichen Lidia in der kleinen evangelischen Gemeinde des früheren Heinrichswalde. Wir begegnen in diesem urwüchsig-wilden, diesem melancholisch-zerzausten, diesem alten und verschwiegen-schönen Land seinen Menschen und ihren Geschichten. Und mittendrin, irgendwo hinter dem Mythos und in der Nähe der Sehnsucht, begegnen wir einander, begegnen wir uns selbst. Aber manchmal, zwischen allen Reisen, da hält dieses Land noch sehr überraschende Begegnungen bereit...
Ich war unterwegs zwischen Danzig und Vilnius. Autobahnen gibt es in dieser Gegend keine. Doch für mein Ziel waren selbst die polnischen Bundesstraßen noch zu groß. Südlich der Stadt Elbing bog ich ab auf eine Chausseestraße und in eine Landschaft, die wie von alter Erinnerung weichgezeichnet und idealisiert schien – zumindest in diesem goldenen Nachmittagslicht, zumindest unter dieser zwischen Schön- und Schietwetter unentschiedenen Wolkenkunst. Das vierte Dorf hinter dem zwölften Hügel hieß einst Schlobitten. Als ich seinen kleinen backsteinernen Kirchturm aus dem Roggenmeer auftauchen sah, erhöhte sich mein Spannungspuls.
Ich bin mit dem Schicksal des einst großen ostpreußischen Königsschlosses und der Familie Dohna vertraut, seit ich im Rahmen eines Gesprächsprojektes mit Zeitzeugen der Umbrüche des 20. Jahrhunderts einige Familienmitglieder kennenlernen durfte. Das Schloss ist am Ende des Zweiten Weltkrieges ausgebrannt. Und so begrüßten mich hinter verfallenen Wirtschaftsgebäuden an der Einfahrt nackt gen Himmel ragende Backsteinmauern, unzählige Fensteröffnungen, und mancher Rest des einst so reichen Fassadenschmuckes. Obwohl noch einige hundert Meter von der Ruine entfernt, erspähte ich Unerwartetes: Da wanderte ein grauer Hosenanzug über blaßrosafarbener Bluse mit Geleit um das Schloss. „Das müssen Deutsche sein!", schoss es mir durch den Kopf. Ich ging auf die Wanderer zu, grüßte und fragte: „Sind Sie auch auf den Spuren der Dohnas unterwegs?" Da drehte sich die ältere Dame in Rosa-Grau um, musterte mich und entgegnete: „Junger Mann, ich BIN Gräfin Dohna!"...Das saß und ich konnte mir große Augen und glücklich überraschtes Grinsen nicht verkneifen.
Ich bat die Gräfin, sie auf ihrem Rundgang durch das Zu Hause ihrer Kindheit begleiten zu dürfen. Und dann kletterten wir gemeinsam durch das alte Gemäuer, allerlei wildes Gestrüpp und die alte Gräfin erzählte. Hier die große Blutbuche im Park unter der sommers gespeist wurde. Dort der kleine „Lindenberg", wo einst die Schaukel zwischen den mächtigen Bäumen hing. Auf dem einsamen Schornsteinrest ein Storchennest, noch bis vor kurzem bewohnt. Das alte Kesselhaus mit den Generatoren zur Beleuchtung des Schlosses, der verwachsene Kanal, der den Schlossteich speiste und eine zugewucherte Schonung mit einem riesigen Findling mitten im Dickicht. Die Erinnerung dieser genauso eleganten, wie zupackend natürlichen Dame ist hellwach und ansteckend. „Geben Sie mir mal Ihre Hand, junger Mann!" „Erkunden Sie mal den Weg nach Stolperfallen!" „Wenn Ihnen der Weg zu matschig ist, können Sie ja zurückbleiben." Es ist eine einzige große Freude!
Am Ende sind die alte Gräfin und ich eineinhalb Stunden durch die Erinnerung gewandert. Was Sie morgen vorhat? „Morgen wollen wir ausreiten! Da gibt es einen freundlichen polnischen Bauern mit guten Pferden." Wie oft sie Schlobitten besuche? „Leider viel zu selten, alle paar Jahre mal." Alle paar Jahre. Und just in diesem Moment kreuzen sich unsere Wege...
Von großer Dankbarkeit erfüllt, habe ich mich verabschiedet. Vielleicht auf ein Wiedersehen in Deutschland? Vielleicht zu einem Interview? Alexandra Gräfin zu Dohna-Schlobitten hat sich wie kaum eine zweite um die Fortführung der Trakehnerzucht verdient gemacht und...Ach, es gibt noch so viel zu erzählen...
P.S. Gräfin Dohnas Vater konnte am Ende des Krieges einen Teil des Schloss-Inventars retten Seit kurzem ist es endlich auf Schloss Schönhausen in Berlin zu besichtigen. Fürst Alexander war es übrigens auch, der den größten aller ostpreußischen Flüchtlingstrecks gen Westen geführt hat. Noch bis zu seinem Tod Mitte der 90er Jahre hat er sich um „seine Leute" gekümmert. Im alten Ostpreußen hieß das „Fürsorgementalität".
(Buchtipp für graue Novembertage: „Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten: Erinnerungen eines alten Ostpreußen": Ein hochspannendes Zeitdokument zwischen Tugend und Irrung, inmitten der Politik und getroffen von der Geschichte).
Herzliche Grüße